Indigene Völker, die in einer ursprünglichen natürlichen Weise leben, werden in unseren Breitengraden oft als primitiv dargestellt. Ich möchte Dir zeigen, warum diese Sichtweise für mich überhaupt nicht stimmig ist. Das, was Eltern in mühevoller Arbeit in Kursen oder Coachings bei mir wieder lernen, ist bei indigenen Kulturen auf natürliche Weise vorhanden. Sie würden im Gegenteil eher uns belächeln, dass Eltern in Kursen so etwas lernen müssen. Es ist für sie das natürlichste der Welt...
Wichtig ist mir zu betonen, dass ich hier von noch intakten Naturvölkern spreche, die es heutzutage kaum mehr gibt, und nicht von schon lange verwestlichten oder kolonialisierten Völkern.
Was indigene völker in der erziehung anders machen
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Bindung
Ursprüngliche Kulturen haben verstanden, dass Bindung die wichtigste Grundlage für Sicherheit, Frieden und gesunde Entwicklung ist. Sie haben natürliche Geburten, sorgen innerhalb der Gemeinschaft für 40 Tage Wochenbett mit intensivem Bonding, tragen ihre Kinder nah bei sich, stillen ihre Kinder lange und haben in südlichen Ländern auch viel Haut-zu-Haut-Kontakt.
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Präsenz und Angebundenheit
Menschen in ursprünglichem Setting sind kaum bis gar keinen künstlichen Einflüssen ausgesetzt. Daher haben sie eine ungleich grössere Präsenz und Anbindung an das "Göttliche", wenn wir es so nennen wollen. Ich meine damit das, was wir auch als Schöpferkraft, höheres Selbst oder innere Führung beschreiben. Jeder, der schon einmal einige Tage in der Natur war - ohne Mobiltelefon, Terminkalender und Konsumgüter - kann sich ein bisschen vorstellen, wie präsent, klar und in sich ruhend sich Menschen fühlen müssen, die IMMER nur von der Natur umgeben sind. Abtrennung, Isolation, Süchte und Einsamkeit entstehen in intakten Naturvölkern kaum in diesem Ausmaß, wie das unsere westliche Kultur hervorbringt. Dazu trägt auch das starke Gemeinschaftsgefühl bei. Natur, Gesang, Trommeln, Tänze, Elemente wie Feuer und Wasser, Handwerkliches Tun, Zusammenleben mit Tieren und die Eingebundenheit in die Familie / Gemeinschaft führen zu einer extrem hohen Stabilität und einem Gefühl von innerer Verbundenheit.
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Selbstführung und soziale Reife
Eltern und Erwachsene in diesen Kulturen haben ein anderes Verständnis von Selbstverantwortung und Selbstführung. Sie leben nicht in Bedürftigkeiten. Sondern jeder lernt in dieser Gemeinschaft sich zum eigenen höchsten Wohl und dem der Gruppe, zu führen. Dazu gehört auch ganz stark die Entwicklung einer Achtsamkeit, sozialen Reife und Weisheit, die in unseren westlichen Kulturen ihresgleichen sucht. Diese Reife und Weisheit entspringt dabei nicht dem Verstand, dem Lernen aus Büchern oder aus der Schule. Sie ist das Ergebnis der Angebundenheit an das höhere Selbst - woraus die Hellsinne und die Intuition in ihrem Potenzial genutzt werden können - in Kombination mit der Körper-, Herz- und Verstandesintelligenz. Und natürlich können alle diese Intelligenzen in anderem Ausmass genutzt werden, weil die Präsenz und Bindung für die nötige Stabilität und Ruhe im Nervensystem sorgen, während das durchschnittliche Nervensystem eines westlichen Menschen von Bindungsstörungen, Stress und Traumata schwer geschädigt ist.
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Neutralität
Ursprüngliche Kulturen besitzen die wohl höchste Fähigkeit auf diesem Planeten: neutral zu sein. Was ist Neutralität? Neutralität ist die Gabe, alles zunächst anzunehmen und aus einer Adlerperspektive zu sehen. Den Dingen aus dem notwendigen Abstand und Weite auf den Grund zu gehen, Ursachen zu suchen, anstatt sich in Emotionen und im Klein-Klein zu verstricken. Opferhaltungen kennen diese Menschen kaum. Probleme erkennen sie als notwendige Hinweise der Seele, um daran zu wachsen und zu lernen. Sie nehmen sich Zeit, diese Dinge anzuschauen. Sie nehmen sich dafür die Hilfe des Schamanen, der die Sprache der Seele übersetzt und deuten kann. Neutral zu sein heisst auch, Egozentrik nicht zu kennen oder zumindest nicht zu kultivieren, weil diese zu Gier, Machtmissbrauch, Manipulation und Kriegen führt. Indigene Kulturen haben ein enges Verhältnis zur Natur und würden ihr nicht schaden. Sie verstehen sich als Teil von Mutter Erde. Alles muss in Balance bleiben und entsprechend geachtet werden. Auch das drückt die Neutralität als Mitte zwischen den Dualitäten aus: Balance zwischen den Polaritäten von Aktivität - Passivität, von Männlich - Weiblich, von Geben - Nehmen.
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Sie folgen der natürlichen Ordnung
Menschen in ursprünglichen Kulturen folgen der Ordnung, die von der Natur gegeben ist und nehmen im gemeinschaftlichen Gefüge ihren Platz ein. Das bedeutet zum Beispiel, dass es klar ist, dass ein Kind ein Kind ist, das der Dorfälteste das weise Oberhaupt ist, dass Frauen für das soziale Wohl sorgen, dass Männer für den Fang/die Jagd usw. zuständig sind und dass ein Mensch mit übersinnlichen Fähigkeiten in dieser Gemeinschaft zum Schamanen ausgebildet wird. In meiner Arbeit mit Eltern erlebe ich oft, dass Menschen nicht mehr wissen, wo ihr Platz ist. Das führt zu Orientierungslosigkeit und fehlender Stabilität. Man wurschtelt sich so durch, aber es ist anstrengend und oft nicht sehr gesund. Dadurch dass wir keine so festen Strukturen mehr haben und 1000 Wahlmöglichkeiten, zerreissen wir uns zwischen Elternrolle, Berufstätigkeit, Partnerschaft, Freunden und eigenen Bedürfnissen. Wo ist der Leitstern?
Wir sind nicht mehr natürlicherweise eingebunden in feste Riten, wir haben in der Regel keine entsprechenden Mentoren und Vorbilder mehr in unserem Umfeld (was natürlicherweise die eigenen Eltern wären) und manche wissen nicht einmal mehr, ob sie männlich oder weiblich sind. Das führt in der Folge zu vielen inneren, aber auch zu äusseren Konflikten. Denn wir müssen uns jedes Mal darüber streiten, wer jetzt den Müll rausbringt, wer für die Autoreparatur zuständig ist und wer wieviel für die Kinder tut. Gleichberechtigung ist oft eine Falle. Sie suggeriert uns Gleichheit, die uns aber gleichzeitig im Kampf gegen das andere Geschlecht aufreibt, schwächt und kaputt macht. In indigenen Kulturen kann die Anerkennung des anderen und der gegenseitige Respekt für das unterschiedliche Sein und die daraus unterschiedlichen Rollen zu einer Harmonie und Entspannung führen, die wir im Moment (zumindest) nicht kennen. Ich bin keineswegs ein Freund von Unterdrückung oder Patriarchat, im Gegenteil. Aber in meiner Wahrnehmung sind patriarchale Strukturen kein Merkmal indigener Völker (siehe auch Punkt 4 - Balance und Achtung aller Elemente), sondern eher ein Merkmal von Zivilisierung (und Kirche/Religion).
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Einzigartigkeit der Kinder
Die Individualität und das einzigartige Wesen des Kindes wird in vielen ursprünglichen Kulturen anerkannt. Oftmals geht der Name des Kindes auf sein Wesen und seine Gabe zurück. Das Schubladendenken, Standardisieren und der krasse Vergleich und Wettbewerb, den wir aus unserer Erziehung kennen, ist in diesen Kulturen relativ unbekannt.
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Direktes sinnhaftes Tun und Lernen
Kinder aus ursprünglich lebenden Gemeinschaften werden von klein auf in deren Lebenswelt eingeführt. Sie ahmen nach - so wie es dank der Spiegelneuronen gedacht ist - und es wird ihnen erlaubt, all das, was die Erwachsenen tun, in echt, mitzumachen und von ihnen zu lernen. Dadurch sind sie einerseits immer in direkter Bindung zum Erwachsenen - was ihr Vertrauen und ihre Sicherheit stärkt - und erleben sich als wertvollen Beitrag zur Gemeinschaft. Ihr Selbstwert wird dadurch gestärkt und ihre Selbstwirksamkeit täglich auf natürliche Weise unterstützt. Sie profitieren dabei unmittelbar von der Erfahrung und Weisheit des Erwachsenen, der in seiner Präsenz, Reife und Neutralität ein echtes Vorbild für das Kind ist. In westlichen Kulturen stattdessen hat man künstliche Spielwelten geschaffen, die das Kind vom Erwachsenen abtrennen. Kinder werden früh in Fremdbetreuungen gegeben, was dazu führt, dass sie die echte Lebenswelt kaum noch erfahren, nur noch von unreifen Gleichaltrigen umgeben sind und die Selbstständigkeit, Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit der Kinder stark minimiert. Kinder wollen spielen und lernen durch Spiel. Aber jeder der schon mal ein Kleinkind zu Hause hatte, weiss, dass es in der Autonomiephase (ca. ab dem 2. Lebensjahr) alles machen möchte, was die Eltern tun. Es möchte überall mithelfen! Es möchte Teil von uns sein. Doch die Erwachsenen sagen ihm dann: "Nein, dafür bist du zu klein, das kannst du noch nicht. Spiel mal lieber mit deiner Puppe". (Wir überhäufen und überfordern Kinder mit Spielzeug - aber das ist ein anderes Thema).
Fühl einmal in Dich hinein: Was macht es mit einem Kind, das in dieser frühen Entwicklung, in der sich das Gehirn und das ganze Mindset entwickelt, wenn es immer hört: "Das kannst du noch nicht"? Und wenn alles im Erwachsenen ausdrückt: "Das traue ich Dir nicht zu." ??
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Hingabe statt Kontrolle
Hingabe spielt eine wichtige Rolle in indigenen Kulturen. Wie ich in Punkt 4 erwähnte, ist die Fähigkeit die Dinge so neutral wie möglich zu sehen und sie anzunehmen, eine ganz wesentliche Essenz in ursprünglichen Gemeinschaften. Sie hat weniger damit zu tun, dass sie sich ihrem Schicksal ergeben, als vielmehr damit, dass diese Kulturen ein tiefes Vertrauen ins intuitive Geführt-Sein entwickelt haben und dass ihnen Kontrolle sehr fremd ist. Kontrolle ist ein Punkt, der westliche Kulturen auszeichnet, sie in vielerlei Hinsicht in Leiden stürzt und es vielen Eltern so unglaublich schwer macht. Kontrolle braucht ein Mensch nur dann, wenn ihm die Grundsicherheit, Bindung und Angebundenheit fehlt. Aber auch dann bleibt es ein illusionäres Konstrukt, das der Komplexität der Welt im Aussen nicht gerecht wird. Man wird letztlich daran verzweifeln, denn die Welt ist nicht zu kontrollieren. Zudem macht Kontrolle Menschen nicht nur zum Opfer, sondern bringt sie in eine energetische Enge und Starre, die Heilung, Regulation und Erfüllung absolut verhindert.
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Natürliche Grenzerfahrungen
Natürliche Völker erlauben ihren Kindern natürliche Grenzerfahrungen. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie ihren Kindern nicht ständig sagen, was sie nicht tun sollen und wo überall Gefahren lauern. Die Kinder dürfen mehr durch die eigene Erfahrung lernen (was wiederum mit der Hingabe zu tun hat). Wenn das Gefäss herunterfällt und zu Bruch geht, machen sie keine Vorwürfe, sondern vertrauen darauf, dass das Kind seine Lektion dadurch gelernt hat. Sie kommentieren das Geschehen mit einer neutralen Beobachtung, um den Fokus und die Präsenz des Kindes zu diesem Zusammenhang zu lenken und ihn deutlich zu machen.
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Echtheit statt Masken
Masken in Form von Schutzstrategien des Selbst, um alte Verletzungen und Emotionen nicht zeigen und fühlen zu müssen, sind in diesen Kulturen viel weniger ausgeprägt als bei uns. Einem naturverbundenen weisen Menschen kannst du in die Augen schauen und kannst darin seine Seele erkennen. In westlichen Kulturen ist die Essenz des Menschen oft kaum noch greifen, sie ist verschüttet hinter Illusionen, falschen Werten, Masken/Fassaden/Mauern, Traumata und Konditionierungen. Traumata entstehen in indigenen Kulturen sowieso kaum, denn Traumata werden durch die Abtrennung vom Natürlichen erzeugt. Natürlichkeit, Integrität und Echtheit ist übrigens etwas, auf das Kinder voll anspringen. Kinder ziehen integre Menschen sozusagen magisch an. Wenn du integer und echt bist, wirst Du keine Probleme haben, Dein Kind zu führen. Es folgt Dir fast schon von allein. Integrität ist die magische Zutat für Anziehung und natürliche Autorität, die indigene Völker auszeichnet. Sie ist übrigens auch die Voraussetzung für Weisheit im Alter...
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Das Kind lernt direkt vom Erwachsenen
Was wir heute unter dem neuen Begriff "Freie Bildung" kennen, praktizieren indigene Stämme schon immer: die Kinder lernen in der direkten Lebensumwelt vom Erwachsenen oder von Kindern unterschiedlichen Alters. Es gibt keine Schule. Kein System. Das führt zu Weisheit, sozialer Reife und Selbstständigkeit, Selbstverantwortung, Demut und freier Entfaltung des eigenen Seins. Was aber noch viel wichtiger ist: angefangen von der natürlichen Geburt bis ins Erwachsenenalter bleiben die Kinder in ihrem ureigenen Rhythmus. Dieser Faktor ist nicht zu unterschätzen für die gesunde Entwicklung eines Menschen, insbesondere weil er sich direkt und immens auf die Regulierung des Drüsen-/Hormon-/Nervensystem auswirkt. Wenn Du als Frau schon einmal Stimmungsschwankungen/Depressionen aufgrund von PMS oder Wechseljahren hattest, dann weisst Du, welchen immensen Einfluss die Hormone auf Dein Wohlbefinden, Deine innere Ruhe und Deine Beziehungs- und Konfliktfähigkeit haben. Wenn wir gereizt und ständig im Stressmode sind, können wir oft gar nicht mehr friedlich, freudvoll und zugewandt unseren Kindern gegenüber sein. Von unserem krassen Arbeitsleben in den Jobs der westlichen Welt will ich jetzt hier in diesem Artikel mal gar nicht erst anfangen.
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Entwicklungsorientiertes Mindset
Vom Mindset habe ich schon öfters gesprochen. Deshalb werde ich hier auf den dazugehörigen Blogbeitrag verweisen. In jedem Fall wird dieses förderliche Growth Mindset unter den oben genannten Voraussetzungen in ganz anderer Weise eingeladen und geprägt als in einem engen leistungsorientierten System wie dem unseren, das keine Fehler toleriert. Indigene Völker sehen Fehler als etwas ganz natürliches an, das selbstverständlich zu einem Kind in der Entwicklung dazu gehört. Fehler zu machen, daraus zu lernen und dafür einstehen fördert die Integrität dieser Kinder.
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